Für immer mehr Arbeitnehmer sind lange Fahrten zur Arbeit und wieder zurück ein fester Bestandteil ihres Berufsalltags. Wenn Wohnort und Arbeitsplatz weit voneinander entfernt liegen, sind Menschen nicht selten eine Stunde und länger unterwegs. Zum erheblichen Zeitaufwand kommt die persönliche Belastung, die auch auf Dauer in Stress ausarten und schlimmstenfalls körperliche und psychische Probleme verursachen. Im Experteninterview gibt Professor Dr. Christoph Bielitz Auskunft darüber, welche Belastungen das Pendeln mit sich bringt. Der Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Naturheilverfahren und Suchtmedizin pendelt regelmäßig die 700 Kilometer zwischen Leipzig und Bad Säckingen. Er spricht aus eigener Erfahrung, wie sich vermeiden lässt, dass Pendeln regelrecht krankmacht.
Warum wird pendeln von vielen Menschen als Stress empfunden?
Pendeln ist nie allein die Ursache für Stress. Staus sind natürlich immer ärgerlich, denn sie versinnbildlichen gewissermaßen das Gegenteil des gesellschaftlichen Lebens, das auf Fortschritt und Geschwindigkeit ausgelegt ist. Auch ein verspäteter oder verpasster Zug sorgt selten für Vergnügen. Der eigentliche Stress entsteht allerdings dann, wenn weitere Faktoren wie beruflicher Druck, Terminkollisionen oder private Herausforderungen hinzukommen.
Welche Auswirkungen kann das nach sich ziehen?
Probleme treten immer dann ein, wenn eine Störung der Erholungsphase daraus resultiert. Das Spektrum der Folgen, die ausgelöst oder verstärkt werden können, ist vielfältig: Blutdruckerhöhung, Ungeduld, Reizbarkeit oder auch Ängste. Eine Schwächung des Immunsystems kann durchaus Grund dafür sein, dass daraus gesundheitliche Probleme entstehen. Schlimmstenfalls kann das alles in ein Vermeidungsverhalten münden.
Welche Personen sind besonders gefährdet?
Eine allgemeingültige Antwort auf diese Frage gibt es nicht. Das Ausmaß der Belastung ist abhängig von der persönlichen Konstitution. Das genutzte Verkehrsmittel ist dabei unerheblich. Stress wird sowohl der Autofahrer im dichten Verkehr ausgesetzt als auch der Nutzer öffentlicher Verkehrsmittel. Im Zug oder Bus ist man auch ganz anderen Reizen ausgesetzt. Es gibt durchaus Fälle, in denen Menschen durch Gedränge oder die Geräuschkulisse unangenehm berührt werden, die durch Mitreisende verursacht werden. Von Verspätungen ganz zu schweigen.
Woran kann man erkennen, dass man gestresst reagiert?
Das Umfeld – sowohl Familie, Kollegen aber auch Mitreisende oder Beifahrer – ist ein gutes Korrektiv, das man ernst nehmen sollte. Spätestens aber, wenn wiederholt Strafzettel wegen Geschwindigkeitsüberschreitungen ins Haus flattern oder es sogar Punkte in Flensburg gibt, sollten die Alarmglocken schrillen. Heikel wird es insbesondere dann, wenn Stress in Aggression umschlägt, die sich auf das Verhalten von Verkehrsteilnehmern auswirkt. Typische Symptome im Straßenverkehr sind Drängeln, Hupen oder riskante Manöver bis hin zur Nötigung oder bewussten Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer. Nicht zu unterschätzen ist jedoch auch das andere Extrem: Unachtsamkeit oder Ermüdungserscheinungen, die schlimmstenfalls bis zum Einschlafen am Steuer reichen können.
Muss Pendeln immer mit Stress verbunden sein?
Nein! Es gibt viele Menschen, denen Pendeln sogar Vergnügen bereitet, die eine lange Autofahrt als Auszeit oder Zeit für sich ansehen und diese entsprechend gewinnbringend nutzen. Dazu gehöre vielleicht auch ich: man kann eine lange Autofahrt ja auch nutzen, um nachzudenken oder um sich zu entspannen. Es gibt Menschen, die geistig hoch aktiv sind und Pläne schmieden, wenn sie im Auto unterwegs sind, oder im Zug ein gutes Buch lesen, lernen oder einfach abschalten. Letztlich ist vieles im Leben eine Frage der Grundhaltung. Ich rate grundsätzlich zu mehr Gelassenheit beim Pendeln. Denn verschiedene Faktoren lassen sich nicht ändern, auch wenn man sich darüber aufregt. Diese Gelassenheit zu lernen, ist nicht einfach, aber durchaus möglich. Und es erleichtert das Leben erheblich. Man kann eine ärgerliche Situation wie einen Stau ja auch mit Humor nehmen. Oder man kann ein Problem auch in Relation setzen, um zu erkennen, dass es wahrlich Schlimmeres gibt. Auch Entspannungsübungen sind ein probates Mittel. Darüber hinaus sollte man gezielt auf Erholungsphasen im Alltag zu achten.
Was sollte man tun, wenn man anhaltende Beschwerden feststellt?
Wichtig ist generell, immer wieder innezuhalten und sich und seine Lebensumstände zu hinterfragen. Dazu bedarf es auch Ehrlichkeit sich selbst gegenüber. Man muss gegebenenfalls seine Lebenssituation hinterfragen und auch seinen Arbeitsplatz. Und wenn Probleme länger anhalten, sollte ein Psychologe zu Rate gezogen werden.